Spionageskandal in Brüssel: Wie das geheime Netzwerk der Orbán-Regierung aufgedeckt wurde

Ungarische Geheimdienstmitarbeiter, die mit der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán in Verbindung stehen, haben in Brüssel jahrelang versucht, Informationen innerhalb der Institutionen der Europäischen Union zu sammeln. Dies geht aus einer von Telex veröffentlichten Untersuchung hervor, die gemeinsam von Direkt36, Paper Trail Media aus Deutschland und De Tijd aus Belgien durchgeführt wurde. Mehrere Diplomaten in der Ständigen Vertretung Ungarns in Brüssel waren in Wirklichkeit verdeckte Agenten des Informationsbüros (IH), deren Hauptziel es war, Details über die Entscheidungsprozesse der EU und Angelegenheiten, die die ungarische Regierung betreffen, zu erhalten. Die verdeckte Operation wurde 2017 aufgedeckt, was zu ernsthaften internationalen Auswirkungen führte.
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Brüssel: Geheimdienstler in diplomatischer Tarnung
Die Untersuchung ergab, dass in den 2010er Jahren, insbesondere zwischen 2012 und 2018, mehrere IH-Beamte in Brüssel unter diplomatischer Tarnung operierten. Der Hauptakteur des Netzwerks mit dem Codenamen V. war der führende Geheimdienstmitarbeiter in der Ständigen Vertretung und arbeitete dort offiziell als Diplomat. Er behauptete, sein Ziel sei es, “eine neue ungarische Elite in Brüssel aufzubauen”, die sich aus jungen Fachleuten zusammensetzt, die später in einflussreiche Positionen innerhalb der EU aufsteigen könnten. Doch V.s Arbeit ging über symbolische Ambitionen hinaus: Dem Bericht zufolge unternahm er konkrete Versuche, Quellen anzuwerben, darunter einen ungarischen EU-Beamten, der bei der Europäischen Kommission arbeitet. Anstatt direkte finanzielle Anreize anzubieten, schlug er die Unterstützung einer Nichtregierungsorganisation vor, um sie für sich zu gewinnen. Der Beamte lehnte das Angebot ab, aber nach diesen Treffen wuchs der Verdacht gegen V..
Zusammenbruch des Netzwerks
Im Jahr 2017 wurde V. gefasst und kompromittierte damit den gesamten ungarischen Geheimdienstsitz in Brüssel. Quellen behaupten, dass der IH sein Netzwerk von Grund auf neu aufbauen musste. Der Untergang wurde darauf zurückgeführt, dass V. und seine Kollegen grundlegende Sicherheitsprotokolle ignorierten, zu offen rekrutierten und sogar per SMS kommunizierten. Eine Quelle bemerkte dazu: “Er hat rücksichtslos gehandelt, was die Aufmerksamkeit der EU auf sich zog.” Infolgedessen verlor der ungarische Geheimdienst jahrelang sein Vertrauen in Brüssel.
Ungarische EU-Beamte im Visier
Der IH hatte es in erster Linie auf ungarische EU-Mitarbeiter in Brüssel abgesehen und nicht auf ausländische Staatsangehörige. Die Agentur wandte verschiedene Methoden an: Sie appellierte an die patriotische Pflicht, versprach Karrierefortschritte oder bot finanzielle Unterstützung an. Ungarische Staatsangehörige, die bei der Kommission arbeiteten, wurden anhand von Hintergrundstudien, staatlichen Datenbanken und geheimen Berichten sorgfältig profiliert. Nach der Anwerbung erfolgte die Weitergabe von Informationen in der Regel über verschlüsselte Kommunikationskanäle zurück nach Ungarn.
Olivér Várhelyi und geheimdienstliche Verbindungen
Zwischen 2015 und 2019 war der Leiter der Ständigen Vertretung Ungarns in Brüssel Olivér Várhelyi, der heute als EU-Kommissar bei der Europäischen Kommission tätig ist. Obwohl keine direkte Beteiligung an verdeckten Operationen nachgewiesen wurde, behaupten mehrere Quellen, dass er von verdeckten Geheimdienstmitarbeitern in der Botschaft wusste und regelmäßigen Kontakt mit der IH-Führung pflegte. Einige Kommissionsinsider behaupten, er habe gewusst, welche Mitarbeiter in Brüssel an Berichten arbeiteten, die der Regierung Orbán nicht gefielen. Der Sprecher der Europäischen Kommission erklärte, es seien keine ethischen oder rechtlichen Beschwerden gegen ihn eingereicht worden.

Vertiefendes Misstrauen innerhalb der EU
Die ungarische Spionageaffäre hat sowohl die politischen als auch die geheimdienstlichen Spannungen innerhalb der EU angeheizt. Der belgische Nachrichtendienst (VSSE) lehnte es offiziell ab, sich zu äußern, aber interne Quellen bezeichneten den Fall als “ernst”. Gerhard Conrad, ehemaliger Leiter des EU-Nachrichten- und Lagezentrums, betonte, dass es gegen das Wiener Übereinkommen verstößt, wenn ein Diplomat Geld für Informationen anbietet. Offiziell betrachtet Belgien Ungarn weiterhin als “blaues” – verbündetes – Land, aber laut De Tijd ist das Misstrauen gewachsen und Ungarn wird zunehmend als “lila” betrachtet, was bedeutet, dass seine Loyalität in Frage gestellt wird.
Verstärkte diplomatische Präsenz und Überwachung
Trotz des Skandals hat die Orbán-Regierung ihre Präsenz in Brüssel verstärkt. Im Jahr 2025 wurden acht neue Diplomaten in die Ständige Vertretung berufen, darunter einer, dessen Kosten vom ungarischen Geheimdienst, dem Verfassungsschutz, übernommen werden. Im vergangenen Jahr wurde außerdem das Ungarische Haus in Brüssel eröffnet, das offiziell kulturellen Zwecken gewidmet ist, von den belgischen Sicherheitsdiensten aber als potenzielles nachrichtendienstliches Risiko betrachtet wird.
Quellen: Direkt36, Der Spiegel, Der Standard, De Tijd

