Deshalb brauchen wir die Lohnunion – Analyse des Ökonomen Péter Róna
Der ungarische Ökonom Péter Róna schreibt in der Tageszeitung Magyar Nemzet über die Bedeutung der Lohnunion: Orthodoxe Ökonomen und Ungarns Regierung mit ihrer scheinbar unorthodoxen Wirtschaftspolitik scheinen sich in der Absage an die Tarifgewerkschaftsidee gefunden zu haben. Sie behaupten einstimmig, dass das Konzept nicht durchführbar und sogar schädlich ist. Manche sagen, eine europäische Lohnunion würde die Löhne in die Brüsseler Entscheidungskompetenz rücken und damit den Imperativ der nationalen Souveränität untergraben. Andere befürchten, dass das Projekt die Löhne stärker steigern würde als die Produktivität, was dann zu einem ernsthaften Ungleichgewicht führen würde, insbesondere zu einer galoppierenden Inflation. Die dritte Gruppe stützt die Wettbewerbsfähigkeit Ungarns in erster Linie auf niedrige Löhne und sieht nicht, wie dies geändert werden könnte. Der Vierte hält das Konzept für konträr zu den Interessen wirtschaftlich fortgeschrittener EU-Mitgliedsstaaten und damit für nicht umsetzbar.
Rónas Meinung in der Tageszeitung Magyar Nemzet
Das Problem, das das Lohngewerkschaftskonzept lösen soll, ist viel größer als jede vermeintliche Intrige von George Soros oder die Bedrohung durch Flüchtlinge/Einwanderer.
Es geht um nichts Geringeres, als das grundlegendste Versprechen der EU einzulösen, nämlich aus den Nationen Europas eine Schicksalsgemeinschaft zu schaffen.
Wenn die Lohnungleichheiten bestehen bleiben und sich auf ihrem derzeitigen Niveau stabilisieren, wird die Europäische Union einfach ihren Sinn verlieren. Der wahre Test für einen solchen Zweck liegt nicht im BIP-Wachstum, sondern in den Reallöhnen. Der Frieden zwischen Nationen und sozialen Gruppen kann sich in Konfrontation und schließlich in offenen Konflikt verwandeln, und die Zeichen dieses Prozesses sind bereits sichtbar. Entgegen der Meinung vieler anderer sehe ich das Hauptproblem also nicht in einem schwachen BIP-Wachstum, sondern in der Verteilung der daraus erwirtschafteten Einnahmen. Die Anomalie manifestiert sich in einer immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich, während die ungünstige Entwicklung der Reallöhne zu diesem schwachen BIP-Wachstum beiträgt.
Werfen wir einen Blick auf die Zahlen. Abgesehen von Slowenien hat kein postkommunistisches Land auch nur die Hälfte des EU-Durchschnittslohnniveaus erreicht, und die 60 % Sloweniens können auch kaum als Erfolg bezeichnet werden. Bulgarien, das ärmste von allen, produziert 18 Prozent des EU-Durchschnitts, und Estland, der Zweitplatzierte nach Slowenien, weist 48 Prozent auf.
Die reichste Region der EU, Westminster im Vereinigten Königreich, genießt ein 600-mal (ja, sechshundertmal) höheres Pro-Kopf-Einkommen als die beiden ärmsten (eine in Rumänien, die andere in Bulgarien).
Solche Lücken können nicht einfach auf die zweifellos unterschiedlichen Produktivitätsniveaus zurückgeführt werden. In den V4-Ländern generieren beispielsweise 100 EUR Lohnausgaben 212 EUR Einnahmen, im Gegensatz zu 132 EUR in Deutschland. Die geringe Effizienz unterqualifizierter Arbeitskräfte bedeutet eine schwache Verhandlungsposition im Umgang mit Kapitaleignern. Kein Wunder, dass die Interessendurchsetzungskapazitäten der Gewerkschaften mehr oder weniger dem Entwicklungsstand der jeweiligen Volkswirtschaft entsprechen, und je fortgeschrittener die Volkswirtschaft ist, desto höher ist der Anteil der Arbeit am Volkseinkommen.
Neben dem Produktivitätsniveau liegt die Erklärung für die rückständigen Löhne auch in der Verschiebung der Verteilung des Volkseinkommens zwischen Kapital und Arbeit. Die OECD-Mitgliedstaaten haben seit 18 ein Produktivitätswachstum von 1999 Prozent erlebt, während die Reallöhne lediglich um 8 Prozent gestiegen sind. Die Differenz floss in die Aufstockung der Kapitaleinkommen. In jedem Peripherieland ist der Anteil des Kapitals am BIP-Wachstum gestiegen, während der Anteil der Arbeit stetig gesunken ist.
In unserer Region hat Ungarn am schlechtesten abgeschnitten.
Der Anteil der ungarischen Reallöhne am Volkseinkommen ist seit 5.6 um 2007 Prozent gesunken, in Tschechien ist ein Rückgang um 2.6 Prozent zu verzeichnen, in Polen ist der Wert unverändert geblieben, in der Slowakei hat er sich um 3.3 Prozent verbessert. (Diese Zahlen zeigen die außerordentlich kapitalfreundliche Haltung der ungarischen Regierung und widerlegen die Glaubwürdigkeit ihrer Wirtschaftspolitik, die darauf abzielt, das Ansehen der Arbeitnehmer zu fördern.) Diese Verschiebung untergräbt das Gerechtigkeitsempfinden der Arbeiter und wirkt sich ausdrücklich negativ auf das Wirtschaftswachstum als rückständiges Real aus Löhne führen dazu, dass die solvente Nachfrage nicht steigt oder sogar sinkt, was die Chancen auf Wirtschaftswachstum dämpft. Wenn es keine zahlungsfähige Nachfrage gibt, kann die Produktion auch nicht wachsen.
Ziel der Tarifunion ist es, diese Prozesse zu stoppen und dann umzukehren. Welche Schritte könnten helfen, dieses Ziel zu erreichen?
Nahezu umgekehrt proportional zum sinkenden Anteil der Reallöhne sind die Einnahmen des internationalen Finanzsektors und die „Offshoring“ dieser Einnahmen gestiegen. Der Finanzsektor hat den produktiven Sektor gezwungen, einen zunehmenden Anteil seines Gewinns in Form von Dividenden, Zinsen, Lizenzgebühren und anderen Vergütungen an das Kapital abzuführen und/oder in Offshore-Unternehmen zu akkumulieren. Das dreifache Opfer dieses Prozesses ist die Gesellschaft: Ein geringerer Teil des erwirtschafteten Gewinns steht für Löhne zur Verfügung; die Steuerbemessungsgrundlage des Staates wird reduziert; und es gibt mehr Ressourcen, um konsumgetriebene Verschuldung zu fördern.
Als erster Schritt könnte der Tarifverband Finanztransaktionen (insbesondere Transaktionen mit Offshore-Gesellschaften) höher besteuern und die so erzielten Steuereinnahmen Grundlage für eine Senkung der Lohnsteuer sein.
In einem zweiten Schritt könnte die Kapitalsubvention des Staates überprüft werden. Die Kapitalförderung der nationalen Regierungen sollte einer einheitlichen EU-Regelung unterliegen. Subventionen sollten auf der Grundlage des Arbeitsschulungs- und Umschulungsbedarfs festgelegt werden. Der dritte Schritt ist die Verabschiedung eines einheitlichen Arbeitsgesetzbuches, das die Rechte und Pflichten der Arbeitnehmer festschreibt. Die vierte und komplexeste Aufgabe besteht darin, die Voraussetzungen für eine Steigerung der Produktivität zu schaffen.
Zweifellos ist diese Aufgabe nicht einfach, aber der Weg zur Verbesserung dieser Situation ist auch ziemlich offensichtlich. Das größte Hindernis ist die derzeitige kapitalfreundliche Wirtschaftspolitik, die im Namen vermeintlicher nationaler Interessen und nationaler Souveränität betrieben wird, in Wirklichkeit aber die Arbeiterschaft belastet.
Wie oben skizziert, bedeutet der Kurs der Tarifunion naturgemäß eine verstärkte Integration innerhalb der Europäischen Union.
Wer auf nationale Souveränität setzt, steht in dieser Hinsicht auch für eine Welt rückständiger Löhne.
Quelle: Magyar Nemzet/Péter Rona
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